4. Fastensonntag – 27. März 2022 – Laetare
Der verlorene Sohn – der barmherzige Vater
Eine tolle Geschichte, die wir eben gehört haben. Kennen wir alle, seit unserer Kindheit. Aber diese Geschichte ist wie ein großes Haus mit ganz vielen Zimmern.
Ich gehe durch eine große Tür in das Haus, gehe von Raum zu Raum und begegne immer neuen Bewohnern.
Man kommt in das Haus und begegnet zuerst dem Vater mit seinen zwei Söhnen, von denen der Evangelist Lukas erzählt. Da ist der eine Sohn, der zu Hause bleibt und treu und brav hilft auf dem Hof, in der Landwirtschaft. Und der andere Sohn, der raus will, der sich sein Erbe auszahlen lässt und sein Elternhaus verlässt.
Und damit tun sich für mich gleich wieder neue Räume auf:
Ich komme in ganz andere Zimmer. In einem sitzt eine junge Familie.
Gerade hat die Frau ihr erstes Kind geboren, die beiden Eltern sind ganz begeistert von ihrem Glück: Sie sind so sehr eins miteinander und mit ihrem Kind, wie sie nie wieder sein werden. Denn aus ihrem Neugeborenen wird ein selbständiges Menschenkind, ein Persönchen, das eigene Vorlieben entwickelt, sich eigene Freunde sucht, auch wenn die den Eltern nicht passen.
Eine beeindruckende Geschichte von großer Nähe und Liebe und schrittweisem Loslassen. Eine Geschichte von Kindern, die verloren gehen, weil der Mensch nicht immer Kind bleibt – wo immer die Geschichte vom verlorenen Sohn erzählt wird, hört man auch diese Geschichten.
Oder diese: Von der alten Dame, die ihren achtzigsten Geburtstag feiert. Viele sind gekommen: die Nachbarn, zwei ihrer Söhne, sogar der Pastor und Bürgermeister.
Nur der dritte, der jüngste Sohn, ist nicht da.
Und damit ist der Geburtstag für die alte Dame gelaufen.
Sie bedankt sich höflich für alle Glückwünsche und Geschenke.
Sie wahrt die Form denen gegenüber, die gekommen sind, um mit ihr zu feiern.
Aber der eine, der Wahre, fehlt.
Und alle, die gekommen sind, spüren, dass sie nicht die Wahren sind.
Auch diese Geschichte steckt in der Geschichte vom verlorenen Sohn: Die Geschichte von der Sehnsucht nach denen, die besonders fern von uns sind.
Die Geschichte der Liebe zu denen, die wir am wenigsten verstehen, die uns am meisten verletzen.
Und da ist auch die Geschichte von der Verlorenheit der Menschen, die immer da sind.
Die still und treu helfen, die immer verfügbar sind und denen selten gedankt wird.
Die Geschichte der stillen und fleißigen Kinder, die selten Probleme machen, die unauffällig sind und pflegeleicht.
Die nicht beabsichtigen, von sich selbst zuviel Aufhebens zu machen.
So viele Geschichten wohnen in der einen Geschichte vom „Verlorenen Sohn“.
Und noch viel mehr: Geschichten, die davon erzählen, dass trotzdem alles gut werden kann. Dass aus schutzbedürftigen Neugeborenen erwachsene Menschen werden, die ihre eigenen Wege nehmen und sich vielleicht sehr weit entfernen von den Eltern.
Aber die Geschichte vom Vater und seinen beiden Söhnen erzählt uns auch davon, dass unsere Kinder, auch wenn sie weggehen, doch immer unsere Kinder bleiben.
Dass wir sie gehen lassen können.
Weil wir darauf vertrauen dürfen, dass die Liebe, die wir ihnen gegeben haben, eben nicht verloren ist.
Dass die Liebe seines Vaters auch den verlorenen Sohn noch hält und ihm die Kraft gibt, umzukehren.
Die Richtung zu wechseln. Sich zu ändern, wieder heimzugehen zum Vater.
Die Geschichte erzählt von verlassenen Eltern, die wie verwaist dastehen, wenn die Kinder aus dem Haus sind.
Die Kinder, um die sich jahrelang so viele Sorgen und so viele Hoffnungen gedreht haben.
Sie erzählt von Eltern, die verletzt und enttäuscht sind.
Aber sie erzählt noch viel mehr: Von einem Vater, der nicht an seinen Verletzungen festhält, der ganz einfach dem Sohn entgegenrennt.
Sie kennen das: „Wer kommt in meine Arme“, dieses alte Spiel, bei dem das Kind atemlos den ausgebreiteten Armen der Eltern entgegenrennt.
Hier wird sie in einer Variante erzählt, die nur die Liebe sich ausdenken kann: Der Vater rennt mit ausgebreiteten Armen dem Sohn entgegen.
Die Geschichte vom verlorenen Sohn erzählt auch von der Bitterkeit und der Enttäuschung des daheimgebliebenen Sohnes.
Aber sie erzählt noch viel mehr: Dass einmal der Moment kommt, wo das scheinbar wenig beachtete Kind seinen Vater zur Rede stellt.
Wo es seine Wut und den Ärger rauslassen kann und in so einem Moment seine Enttäuschung zeigen kann.
Und die Geschichte erzählt von einem Vater, der endlich mal ausspricht, wonach der daheimgebliebene Sohn sich immer schon gesehnt hat: „Junge – Ich liebe dich doch! Was mein ist, ist doch auch dein.
Die Geschichte vom verlorenen Sohn lässt mindestens die Chance offen, dass der Daheimgebliebene, der Verbitterte, doch noch ins Haus geht und das Fest mitfeiert, das für den Heimkehrer ausgerichtet wird.
Die Geschichte vom verlorenen Sohn hält die Hoffnung wach, dass das immer gelingen kann.
Auch in unseren Familien. In unseren Gemeinden.
Dass die Ausreißer und die Dagebliebenen, die ganz Braven und die Suchenden, die Sparer und die Verschwender, die Lauten und die Leisen an einem Tisch sitzen können.
Und Miteinander feiern können. Die sich achten und vielleicht sogar lieben können.
Der, der uns diese Geschichte erzählt hat, Jesus, hat es vorgemacht:
ER hat sich mit Reichen und Armen, Gebildeten und Ungebildeten, Frommen und Sündern an einen Tisch gesetzt – immer wieder.
Und er hat immer neue Geschichten erzählt, von seinem Vater im Himmel, der sie alle liebt, jeden auf seine ganz eigene Weise.
Und der nie und auch nur einen verloren gibt.
Eine Wahnsinnsgeschichte – ich liebe diesen Gott!
Amen